„Klappt der Solidarausgleich doch? Statistiken belegen zumindest, dass Menschen mit Top-Gehältern den Finanzämtern ordentlich Einnahmen bringen.“ schreibt „Spiegel Online“ und lässt die Frage offen. Der Titel „Topverdiener zahlen ein Viertel der Lohnsteuer“ und der einführende Satz: „Wenige zahlen für die Masse mit“ legen jedenfalls nahe, dass der Spiegel das bejahen würde.
Nehmen wir 10 Bürger, die 10.000, 20.000 usw. bis 100.000 Euro verdienen. Als Steuersystem nehmen wir eine Flat-Tax von 10 % an, das heißt, dass jeder den gleichen Steuersatz bezahlt. Es gibt keine Freibeträge. Das Steuersystem wäre dann extrem einfach, aber auch wenig solidarisch. Dann würden 10 % der Menschen 100.000 von 550.000 Euro Einkommen erzielen, also etwa 18 %, und auch etwa 18 % der Steuer zahlen, nämlich 10.000 von 55.000 Euro. Es liegt also in der Natur der Sache einer prozentualen Steuer, dass Gutverdienender einen höheren Anteil tragen. Nehmen wir das gleiche System mit 100 Personen: eine verdient 250.000 Euro, alle anderen 7575,76 Euro. Dann beträgt das Gesamtsteueraufkommen etwa 100.000 Euro und 1 % der Steuerzahlen zahlen 25 % der Steuer. Dummerweise entfallen aber gleichzeitig 25 % des Einkommens auf 1% der Steuerzahler.
Ursache für die so fair wirkenden Zahlen kann also auch eine krasse Ungleichverteilung der Einkommen sein, einer scheinbaren Gerechtigkeit kann also eine schreiende Ungerechtigkeit zugrunde liegen. Die Angabe, dass nur 1 % der Steuerzahler über 172.000 Euro verdienen, deutet darauf hin, dass es genau so ist. Zahlen, die die Verhältnisse nachvollziehbar machen, nennt „Spiegel Online“ leider nicht.
Darüber hinaus bleibt der Artikel hinter der Dachzeile „Deutsches Abgabensystem“ zurück. Denn betrachtet man statt der Lohnsteuer das ganze Abgabensystem, dann sieht es wirklich übel aus. Während im Bereich der Lohnsteuer noch Progression angewendet wird, der Spitzensteuersatz beträgt 45 % plus Soli, gibt es für Kapitaleinkünfte eine Flat-Tax von 25 % plus Soli. Wer ohne sich krumm zu machen Geld mit seinem vielen Geld verdient, wird also steuerlich bevorzugt. In den Sozialsystemen haben wir zudem Beitragsbemessungsgrenzen. Die deutschen Sozialversicherungen funktionieren wie die unsolidarische Flat-Tax, nur dass die Beiträge gedeckelt werden. Das Verfahren ist also noch einmal unsolidarischer. Beide Abgaben sind übrigens alles andere als unerheblich.
Auch wenn der Artikel aus Agenturmeldungen zusammengestrickt ist, denke ich, „Spiegel Online“ gut daran getan hat, die eingangs genannte Frage unbeantwortet zu lassen. Sie zu beantworten, hätte es ja eigener Recherche und einer Bewertung bedurft.
Update 16.10.2011: Ich habe Zahlen. In den „Tagesthemen“ vom 15. Oktober 2011 sagt der Soziologe Michael Hartmann, dass sich 36 % des Vermögens auf 1% der Bevölkerung konzentrieren würden. Nun lassen sich Einkommen und Vermögen nicht direkt vergleichen, aber die Werte sind erschütternd. Ich betone noch einmal, dass sich die Zahlen des „Spiegels“ auf Arbeitseinkommen beziehen. Kapitalerträge werden für Wohlhabende günstiger behandelt. Und eine Vermögenssteuer wird seit 1997 in Deutschland nicht mehr erhoben.